Konstitutionalismus im Wandel

Organisatoren
Zentrum für Verfassungs- und Demokratieforschung (ZVD), TU Dresden
Ort
Dresden
Land
Deutschland
Vom - Bis
09.11.2007 - 10.11.2007
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Von
Dietrich Herrmann und Daniel Schulz, TU Dresden

Die interdisziplinäre und internationale Dresdner Tagung „Konstitutionalismus im Wandel“ eröffnete nicht nur einen Dialog unterschiedlicher Ansätze in der Verfassungsanalyse, sondern bildete zugleich den Auftakt für das neu gegründete Zentrum für Verfassungs- und Demokratieforschung (ZVD) an der TU Dresden. Das interdisziplinäre Forschungszentrum unter Leitung von Hans Vorländer will auf dem Gebiet der Verfassungs- und Demokratieforschung den wissenschaftlichen Austausch zwischen Rechts-, Geschichts-, Sozial- und Politikwissenschaft verstetigen und die internationale Vernetzung befördern.1 Dabei bildeten die zentralen Untersuchungsfelder des ZVD zugleich den Ausgangspunkt für die Eröffnungstagung: Einerseits hat der Konstitutionalismus einen beispiellosen Siegeszug angetreten. Nach den revolutionären Veränderungen in Mittel- und Osteuropa gibt es kaum noch Staaten in Europa, die keine schriftliche Verfassung besitzen. Gleichwohl haben nicht alle Verfassungen die gleiche tatsächliche, normative und regulative Geltung erlangen können. Andererseits schlägt die Globalisierung mit ihren internationalen Verflechtungen und Gefährdungen auf Politik und Recht der Staaten zurück und entzieht den territorial- und nationalstaatlich gebundenen Verfassungen regulative Kraft und normative Geltung. Ob der Bedeutungsverlust nationalstaatlicher Verfassungen durch supra- oder transnationale Rechts- und Verfassungsordnungen kompensiert oder substituiert werden kann, ist eine entscheidende, wenngleich derzeit völlig offene Frage. Das vorläufige Scheitern einer Europäischen Verfassung hat jedenfalls die Diskussionen um eine Weltverfassung oder andere Formen globaler oder regionaler Konstitutionalisierung nicht beendet.

In seinem einleitenden Statement skizzierte HANS VORLÄNDER (Dresden) zunächst die traditionelle Sichtweise, in der die Verfassung entweder auf ihre rechtliche oder auf ihre politische Dimension eingeschränkt wurde. Gerade dieser „halbierte Konstitutionalismus“, der wiederum die disziplinäre Trennung in eine juristische Normwissenschaft und eine politikwissenschaftliche Wirklichkeitswissenschaft widerspiegelt, sei für ein angemessenes Verständnis der Geltungsbehauptung und der Verstetigung der Verfassung bislang eher hinderlich gewesen. Vorländer verwies dagegen auf eine zivilgesellschaftliche Neuentdeckung der Verfassung nach 1989, in der die Idee einer konstitutionellen Ordnung in einer Vielzahl von Dimensionen präsent gewesen sei und die auch der verfassungstheoretischen Analyse neue Perspektiven geliefert habe: Wichtige Aspekte dieser Neuentdeckung der Verfassung waren hier der rechtsphilosophische Diskurs von Rawls und Habermas, die Problematik der von der Verfassungsgerichtsbarkeit erzeugten Spannung zwischen Recht und Demokratie, die Frage nach der konstitutionell vermittelten Integration und der Identität des Gemeinwesens bis hin zu einer republikanischen Lesart der Verfassung, insbesondere in der kulturwissenschaftlichen Verfassungsgeschichte und dem symbolischen Verfassungsdiskurs, und schließlich die Disjunktion von Staat und Verfassung in transnationalen Räumen. Zentral für die Analyse konstitutioneller Ordnung sei nunmehr, so Vorländer, wie eine Geltung der Verfassung jenseits ihrer bloßen Satzung zu erklären sei. Einen wichtigen Anhaltspunkt liefert dazu die konstitutionelle Praxis der Verfassungsauslegung. Dies werde auch in den neueren Ansätzen der Verfassungstheorie deutlich, in denen die Schriftlichkeit der Verfassung nachrangig geworden ist gegenüber anderen Formen der symbolischen Repräsentation und der konstitutionellen Sinnzuschreibung und Interpretation.

Nach dieser kulturwissenschaftlich informierten Neuformulierung des Konstitutionalismus und seiner Analyse wurden in den nachfolgenden Beiträgen von ROLAND LHOTTA (Hamburg) und ARTHUR BENZ (Hagen) die Konvergenzen und Divergenzen mit anderen theoretischen Analysemodellen thematisiert. So stellte Lhotta die Frage, inwieweit der neoinstitutionalistische Ansatz und die Verfassungsanalyse zentrale Probleme, Grundannahmen und Fragestellungen miteinander teilen würden. Beiden sei es schließlich gemeinsam, dass sie den Einfluss von Institutionen auf Akteurshandeln und umgekehrt, die Rolle des Akteurshandelns auf institutionelle Ordnungen zum Thema machten. Außerdem komme in beiden Ansätzen den Regeln eine zentrale Bedeutung zu: Nicht nur in der Verfassungsanalyse, sondern auch im Neoinstitutionalismus sei die Wirksamkeit der Regeln abhängig von der Interpretation durch die Regeladressaten und der Regelanwender. Daher, so Lhotta, könne der Neoinstitutionalismus als eine produktive „Konvergenzzone“ für unterschiedliche Perspektiven der Verfassungsanalyse betrachtet werden.

Benz wiederum ging der Frage nach, inwieweit das Phänomen des Verfassungswandels durch akteurszentrierte Theorien erklärt werden könnte. Dazu differenzierte er zunächst den Begriff des konstitutionellen Wandels in die unterschiedlichen Dimensionen der Verfassungsentwicklung und der Verfassungsreform bzw. -änderung. Während erstere evolutionär ablaufe, seien Verfassungsänderungen als formale Änderungen des Verfassungsrechts zu verstehen, die durch das Zusammenspiel von Akteuren und Strukturen gekennzeichnet sind. Verfassungsändernde Akteure seien zumeist korporative Akteure, deren Handeln durch die Faktoren Interessen, Interaktionsorientierung und Macht geprägt werde. Die Strukturen von Verfassungsänderungen werden hingegen von den institutionellen Prozessen bestimmt, die entweder exekutiv, parlamentarisch oder partizipativ gestaltet sein können. Die Verhaltensweise der Akteure bestimme sich nun danach, welche Akteure in den verfassungsändernden Prozess miteinbezogen werden und wie dieser Prozess strukturiert ist.

Im Unterschied zu diesen politikwissenschaftlichen Akteur-Strukturmodellen präsentierte GÜNTER FRANKENBERG (Frankfurt am Main) einen Ansatz des Verfassungsvergleichs, der Verfassungen als ein „layered narrative“, als geschichtete Erzählungen konzeptionalisierte und damit den Versuch unternahm, die Struktur und den Kontext von Verfassungen gleichsam zum Sprechen zu bringen. Dabei betonte Frankenberg, dass konstitutionelle Ordnungen nicht allein aus der Verfassungspraxis heraus zu verstehen seien, sondern dass auch der Text selbst ein wichtiger Analysegegenstand sein müsse. In seiner strukturalistisch geprägten Untersuchung von Ablagerungen und Sedimenten in Verfassungstexten unterschied Frankenberg so vier Archetypen der modernen Verfassungsgeschichte, die sich in nahezu allen modernen Verfassungen wiederfinden: ein Katalog von Grundrechten, eine Nennung von fundamentalen Werten, ein Set institutioneller Organisationsregeln sowie einen Bezug auf die mögliche Änderung der Verfassung. Insbesondere die letzte, selbstreflexive Dimension der Änderbarkeit macht für Frankenberg die Modernität einer Verfassung aus und bestehe seit der ersten US-amerikanischen Verfassung. Die für den Verfassungsvergleich zentrale Frage sei nun, ob man sich an der Suche nach funktionalen Äquivalenten orientiere, oder ob man die jeweiligen Besonderheiten der Verfassungen in den Vordergrund stelle. Während die erste Vorgehensweise, von Frankenberg pointiert als „Ikea-Theorie“ gekennzeichnet, in einen globalen Supermarkt der Verfassungselemente führe, in dem nichts zusammenpasse, so sei die zweite Perspektive sehr viel weiterführender: Die „odd details“-Theorie frage so nach dem konstitutionell Besonderen und richte den Blick auf die Frage, wie die einzelnen Elemente jeweils kontextualisiert werden.

Die Diskussion dieses ersten Panels wurde bestimmt von der Stellungnahme des Verfassungsrichters BRUN-OTTO BRYDE (Karlsruhe): Für Bryde führt die Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit in einer konstitutionellen Ordnung zwangsläufig zu einer Legalisierung der Verfassung und damit zu einer Professionalisierung der Verfassungsinterpretation, die einer zivilgesellschaftlich orientierten Verfassungstheorie entgegenlaufe. In der Kritik an Bryde wurde dagegen hervorgehoben, dass es auch in hochgradig professionalisierten und verrechtlichten Verfassungskulturen wie den USA eine breite öffentliche Debatte anlässlich von Richterbesetzungen am Supreme Court oder von Gerichtsentscheidungen gebe, die eine Einschränkung des Verfassungsbegriffs auf die juristische Deutungshoheit unmöglich mache. Außerdem wurde grundsätzlich in Frage gestellt, ob die Verfassung als Leitdifferenz von Recht und Politik heute noch den Stellenwert als institutionelle Ordnung des Gemeinwesens einnehmen könne, oder ob die Verfassung im Prozess der Entstaatlichung und in der Konkurrenz universaler Einheitssemantiken nicht vielmehr einen Bedeutungsverlust erlitten habe.

Die Herausforderung durch die neuen, Recht und Politik übergreifenden Theorieansätze wurde auch in der Diskussion um die verfassungstheoretischen Grundbegriffe deutlich, die allesamt von einer Kontextualisierung der Verfassung gekennzeichnet waren: So stellte ANDREW ARATO (New York) in seinem Beitrag die Frage nach dem Begriff der Legitimität im Zusammenhang der Verfassung und beschrieb mit Hilfe von Max Weber die Probleme der universalistisch verfahrenden Vertragstheorien, bei denen die Verfassung als kelsensche Grundnorm außerhalb jeglicher Kontexte gedacht wird und so den Machtaspekt konstitutioneller Gründung außen vor lasse. WINFRIED BRUGGER (Heidelberg) stellte die Verfassung in den Zusammenhang der Gemeinwohlproblematik und bei TINE STEIN (Berlin) wurde die Verfassung in ihren Bezügen zur christlichen Religion analysiert, sowohl in der genealogischen Entwicklung der Menschenrechte als auch mit Blick auf den Gottesbezug in den Präambeln oder der Auseinandersetzung um das Grundrecht auf Religionsfreiheit. GERHARD GÖHLER (Berlin) diskutierte die symbolische Machtdimension der Verfassung und RAINER SCHMALZ-BRUNS (Hannover) ging auf das im Licht transnationaler Verschiebungen problematisch gewordene Verhältnis von konstitutioneller Ordnung und Staatlichkeit ein.

Der Abendvortrag in der Frauenkirche von JUTTA LIMBACH (München) skizzierte dann die Verfassung in ihrer zugleich normativen Grundbedeutung und kulturellen Ordnungsleistung als friedensstiftende Kraft des Rechts, die auch in transnational gewordenen Ordnungen nichts an ihrer fundamentalen Relevanz verloren habe.

Das dritte Panel widmete sich der Frage nach der Disjunktion von Nationalstaat und Verfassung im vormodernen und im transnationalen Konstitutionalismus. Die Beschreibung vormoderner Verfassungen als symbolische Ordnungen könne, so BARBARA STOLLBERG-RILINGER (Münster), durch ihre Distanz, gewissermaßen als Kontrastfolie etwas für die gegenwärtige Verfassungsanalyse bringen. In diesem Kontext plädierte sie für eine verfremdend-ethnologische Sichtweise auf die Materie. In einem Zusammenhang, in dem – von einer dekonstruktivistischen Grundeinstellung ausgehend – sich institutionelle Ordnungen verflüssigen und Verfassungen von Tag zu Tag ihre Geltung neu erzeugen müssen, werde die Verfassung zur symbolischen Ordnung, denn politisch-soziale Ordnungsstrukturen würden ganz wesentlich durch symbolische und nicht nur diskursive und instrumentelle Praxis fortlaufend erzeugt, bekräftigt, aufrecht erhalten, aber auch angefochten, verändert, neu austariert.

Verfassung als symbolische Ordnung, so die Frühneuzeit-Historikerin in ihrer Kernthese, heiße etwas kategorial Verschiedenes je nachdem ob man es auf die Vormoderne oder auf die Moderne beziehe. Sie begründete dies einerseits damit, dass elementare Verfassungskategorien, wie sie in modernen Konstitutionen abstrakt und generell definiert werden, in der Vormoderne allein und ausschließlich auf symbolisch-rituelle Weise erzeugt würden. Das Kennzeichen moderner Verfassungen sei, dass sie grundsätzlich Entscheidbarkeit auch jenseits von Konsens ermöglichten. Indem also formale Entscheidungsverfahren, die eine gewisse prozedurale Autonomie besäßen, materiellen Konsens im Extremfall erübrigten, ermöglichten sie kollektive Handlungsfähigkeit unter komplexen Bedingungen.

Mit ihrer These vom kategorialen Unterschied zwischen vormodernen Ordnungen und modernen Verfassungen stieß Stollberg-Rilinger auf den Widerspruch mehrerer Politikwissenschaftler, vor allem Vorländer verwies darauf, dass es auch in der Moderne nicht alleine auf die Textualität, sondern in der Praxis auf die Formen, Rituale, Symbole der Vergegenwärtigung und Inszenierung ankommt; er vermochte daher keinen Bruch, sondern nur einen graduellen Unterschied erkennen.

DIETER WYDUCKEL (Dresden) stellte in seinem Beitrag über „Das Alte Reich und die Europäische Union“ Überlegungen zur Verfassungsfähigkeit und zur Verfassungskultur im diachronen Vergleich an. Ausgangshypothese war für ihn, dass man nicht nur auf die Verfassung blicken dürfe, sondern die Substruktur, also jeweils das Verfasste oder zu Verfassende mit in den Blick einbeziehen müsse, weil genau hier Vorentscheidungen fielen, die sich dann sowohl beim Alten Reich als auch in der EU auf der Verfassungsebene auswirkten. Ebenso betonte er die Bedeutung der Verfassungsobservanz oder -gewohnheit. Wyduckel wies darauf hin, dass in Deutschland noch vor der Verbreitung des Verfassungsbegriffs seit Ende des 18. Jahrhunderts in der Reichspublizistik von Reichsgrund- und Fundamentalgesetzen die Rede ist, die seit der Goldenen Bulle über den Westfälischen Frieden eine Reihe grundlegender Normen, Sätze und Regeln versammelt. Ohne jegliche Gleichsetzungen vornehmen zu wollen, zeigte Wyduckel einige Parallelen in der Verfassungs-Entwicklung der Europäischen Union auf.

In seinem Beitrag über „transnationalen Konstitutionalismus oder Partialkonstitutionalismen“ wandte sich GUNTHER TEUBNER (Frankfurt/M.) gegen eine Monopolisierung des Verfassungsbegriffs durch die Politik. Transnationaler Konstitutionalismus entstehe primär in einer Vielzahl globaler Regimes, die den Nationalstaatsverfassungen Konkurrenz machen. Als Beispiele solcher globalen Regimes nannte er politische Regimes wie die WTO, private Regimes wie die Lex Mercatoria und hybride Regimes wie die Regulierung des Internet, die jeweilige Eigenverfassungen herausbildeten. Dementsprechend entwickelten sich Grundrechte nicht universal, sondern regimespezifisch heraus. Somit könne sich ein Pluralismus unterschiedlicher Grundrechtsstandards entwickeln. Unter anderem daraus folge, dass es künftig keine einheitliche Globalverfassung geben werde, sondern nur ein Verfassungskollisionsrecht, in dem sich die Eigenverfassungen der Regimes und der Nationalstaaten punktuell vernetzen. In dieser Perspektive ließen sich, so Teubner, drei Leitlinien einer heterarchischen Vernetzung nationaler und transnationaler Verfassungen vorgeben: zum einen keine volle hierarchische Einheit einer Globalverfassung im Stile von uns vertrauten Nationalverfassungen, sondern bloße normative Kompatibilität von unterschiedlichen autonomen Verfassungen, des Weiteren eine Normbildung nicht durch zentralisierte Entscheidung einer politischen oder juristischen oder gesellschaftlichen Distanz, durch wechselseitige Irritation, Beobachtung und Reflexion autonomer Partialverfassungen sowie schließlich der Umgang mit Konflikten der Verfassung als Methode eines transnationalen Verfassungskollisionsrechtes.

ANNE PETERS (Basel) widmete sich in ihrem Beitrag „Transnationaler und globaler Konstitutionalismus“ dem Problem der Konstitutionalisierung des Völkerrechts. Als vier Elemente, anhand derer die prinzipielle Möglichkeit des Zuwachses an Verfassungseigenschaften etwa im Völkerrecht auf globaler oder transnationaler Ebene beobachtbar oder beschreibbar wird, nannte sie: (1) Die Ergänzung des Prinzips der Staatssouveränität als Grundnorm des Völkerrechts durch eine andere Grundnorm, die sie „Respekt der menschlichen Souveränität“ nannte; (2) die Verdrängung des Konsensprinzips im Völkerrecht, Ausdruck der Souveränität, durch Mehrheitsentscheidungen; (3) die universelle Akzeptanz gewisser Grundwerte, wenn auch dieser Wertekonsens sehr schmal und sehr allgemein ist sowie (4) die zunehmende Verrechtlichung und Juridifizierung der Beilegung von Konflikten auf internationaler Ebene durch die Schaffung von internationalen Gerichten und Schiedsgerichten mit mehr quasi obligatorischen Zuständigkeiten.

In der Konstitutionalisierung sah Peters eine Reihe von Vorteilen: So könne die Konstitutionalisierung des Völkerrechts möglicherweise die De-Konstitutionalisierung auf nationaler Ebene kompensieren. Die konstitutionalistische Argumentation lege auch die Frage des Vorrangs des Völkerrechts vor dem nationalen Verfassungsrecht nahe, die momentan sehr umstritten sei. Die konstitutionalistische Lesart könne nicht nur Legitimitätsdefizite des Völkerrechts – etwa hinsichtlich der Durchsetzbarkeit oder des demokratischen Defizits – aufdecken, weil das Völkerrecht sich momentan nicht mehr auf das Souveränitätsprinzip stützen könne, sondern die Verfassungssichtweise eröffne die Frage nach der anderen Legitimität, sie entfalte also ein kritisches Potenzial.

Bernhard Zangl sah eine Verortung des Kollisionsrechts mangels Alternativen letztlich doch beim Staat. Der Staat sei immer noch eine Kontroll- und Zertifizierungsinstanz dieser Partialverfassungen und habe auch an der Stelle möglicherweise noch eine sehr wichtige Funktion. Dem widersprach Ulrich Fastenrath, der in der transnationalen Konstitutionalisierung gerade auch eine Begrenzung der (national-) staatlichen Souveränität erkannte. Auch Bryde sah im Konstitutionalismus eine Beschränkung des Rechtssetzers. Er wies darauf hin, dass sich Verfassungspluralismus nicht allein bei disparaten Systemen entwickele, sondern auch innerhalb desselben Systems, etwa die unterschiedlich akzentuierten Grundrechtskataloge im politischen Bereich von UN, Europa und der nationalen Ebene. Peters sah allerdings angesichts seines Gewaltmonopols wie Zangl nach wie vor eine wichtige Rolle des Staates.

Das Problem des Demokratiedefizits wurde mehrfach angeschnitten; nach Frankenberg sind die klassischen Institutionen, mit denen auf nationalstaatlicher Ebene Demokratie verbunden wird, ungeeignet diese zu stützen. Er hofft auf die Entwicklung entsprechender neuer Kategorien. Bis zur Entwicklung neuer geeigneter Institutionen könnten beispielsweise supra-nationale Gerichte übergangsweise „Platzhalter“ sein. Peters teilte diesen Optimismus nicht; „rule of law“ könne kein Surrogat für Demokratie sein, da Gerichtsbarkeit einzelfallbezogen und nicht prospektiv in der Gesetzgebung unter Beteiligung aller wirken könne.

Bundesverfassungsrichter Bryde bestätigte in seinem Beitrag die Entwicklung einer Pluralisierung im Bereich der Grundrechte. Auf vielen verschiedenen Ebenen fänden sich so z.B. Menschenrechtskataloge, die nicht in einem bestimmten hierarchischen Verhältnis zueinander stünden. Den Zweifeln, dass ein derart nicht-hierarchisches pluralistisches „Rechtssystem“ funktioniere, stellte Bryde entgegen, dass die sich überschneidenden Grundrechtskataloge trotz aller Heterogenität ein hohes Maß an inhaltlicher Konvergenz aufwiesen. Zudem werde bei der Fortentwicklung und Neukonstruktion von Grundrechtskatalogen auf die internationalen Menschenrechtsverträge Bezug genommen. Zum anderen werde das Funktionieren des nichthierarchischen pluralistischen Rechtssystems auch durch informelle internationale Konsultationen, unter anderem im Rahmen von wissenschaftlichen Konferenzen gefördert. Probleme könne es, so Bryde, jedoch als Drittwirkung von Grundrechten bei nicht-vertikalen Konfliktkonstellationen in der Grundrechts-Rechtsprechung geben, wenn nicht mehr Fälle mit unterschiedlichen Normen unterschiedlich entschieden würden, sondern gleiche Normen zur Grundlage unterschiedlicher Entscheidungen würden, was aber angesichts der kommunikativen Vernetzung der Richter bisher nicht akut geworden sei.

Der polnische Verfassungsrichter MIROSLAW WYRZYKOWSKI (Warschau) berichtete über Verfassungsgerichtsbarkeit unter Druck. Den unterschiedlichen Formen des Drucks – nicht zuletzt aus der Politik – könne das Verfassungsgericht auf unterschiedliche Weise begegnen: So sollten die Verfassungsrichter selbst sich eine zurückhaltende Rolle auferlegen. Bei Verfahren gelte beispielsweise jeweils immer die Vermutung der Verfassungsvereinbarkeit parlamentarischer Akte. Jedoch kehre sich diese Vermutung um, sobald es sich um Akte handelt, in denen Freiheitsrechte eingeschränkt werden. Darüber hinaus unterliege die verfassungsrichterliche Entscheidung einer Pflicht zur Rationalisierung, der sich die Richter mutig stellen sollten. Und schließlich plädierte Wyrzykowski dafür, weit reichende Grundsatzentscheidungen zu vermeiden und jeweils immer nur den konkreten Fall zu entscheiden.

Die anschließende Diskussion fokussierte auf die aus dem konstatierten Pluralismus erwachsenden Probleme: Dieser Pluralismus nehme, so Frankenberg, zwei Formen an: Neben dem Pluralismus der Texte und der Richter könne es auch jenseits der Texte absolute Gehalte geben und gleichzeitig viele Gerichte. Peters mahnte ein Verfassungskollisionsrecht an. In Reaktion auf eine Frage Gunther Teubners räumte Bryde das Problem einer überwölbenden Rechtsordnung, mit der viele gesellschaftliche Bereiche konstitutionalisiert würden, ein, womit dann auch jede Rechtsfrage zu einer Verfassungsfrage werden könne. Gleichwohl dürfe das Pluralismus-Problem nicht übertrieben werden: Hierarchien hätten ihren Sinn in der Rechtssicherheit und Rechtsvereinheitlichung; der Vorteil des Pluralismus liege in der Machtbegrenzung.

Die Tagung zeigte in ihrer Summe, dass es nicht nur Verfassungen sind, die sich wandeln: Auch die theoretische Reflexion konstitutioneller Ordnungen befreit sich zunehmend aus ihren eng gezogenen disziplinären Beschränkungen und versucht, im Dialog der Komplexität ihres Gegenstandes gerecht zu werden. Die Bereitschaft zum interdisziplinären Austausch auf dem Gebiet des Konstitutionalismus verweist daher nicht zuletzt auf den weithin geteilten Konsens darüber, dass sich ein umfassendes und anspruchsvolles Verständnis der Verfassung und ihrer Geltung erst in Relationierung ihrer vormals zumeist als getrennt betrachteten rechtlichen, politischen und historisch-kulturellen Dimensionen erschließt.

Konferenzübersicht

Panel I
Neue Ansätze der Theorie und Analyse von Verfassungen
Hans Vorländer (Dresden): Perspektiven einer kulturwissenschaftlich-institutionalistischen Verfassungstheorie
Roland Lhotta (Hamburg): Neo-Institutionalismus und Verfassungsanalyse
Arthur Benz (Hagen/Ottawa): Akteure und Strukturen: Ein Theorieprogramm zur Analyse von Verfassungswandel
Günter Frankenberg (Frankfurt am Main): Texte und Narrative: Wie Verfassungen sich vergleichen lassen

Panel II
Grundbegriffe der Verfassungstheorie
Andrew Arato (New York): Constitution and Legitimacy
Winfried Brugger (Heidelberg): Verfassung, Gemeinwohl, Gerechtigkeit
Gerhard Göhler (Berlin): Verfassung und Macht
Tine Stein (Berlin): Verfassung und Religion
Rainer Schmalz-Bruns (Hannover): Verfassung und Staat

Vortrag in der Dresdner Frauenkirche:
Jutta Limbach: „Die friedensstiftende Kraft des Rechts in Europa“

Panel III
Vormoderner und transnationaler Konstitutionalismus: Disjunktion von Nationalstaat und Verfassung
Barbara Stollberg-Rilinger (Münster): Verfassungen als symbolische Ordnungen
Dieter Wyduckel (Dresden): Das Alte Reich und die Europäische Union
Gunther Teubner (Frankfurt a. M.): Transnationaler Konstitutionalismus oder Partialkonstitutionalismen?
Anne Peters (Basel): Transnationaler und globaler Konstitutionalismus

Panel IV
Konkurrenzen, Emergenzen und Konvergenzen im transnationalen Mehrebenensystem: Die Verfassungsgerichtsbarkeit
Brun-Otto Bryde (Gießen; Richter des Bundesverfassungsgerichts, Karlsruhe): Verfassungspluralismus
Mirosław Wyrzykowski (Richter am Polnischen Verfassungsgerichtshof, Warschau): Verfassungsgerichtsbarkeit unter Druck

Anmerkung:
1 Siehe: <http://tu-dresden.de/phf/zvd>.